Bremen Dezember 2023 Das Kapital Blind Date Fotos: Gerhard-Marcks-Haus Bremen/ Sandra Beckefeldt

 

Kapital

Was ist »Das Kapital« unseres Museums?

Angeregt durch die Namensvetternschaft zwischen unserem »Hausmeister «Gerhard Marcks und dem Philosophen Karl Marx hat sich das ganze Museumsteam zu dieser Frage Gedanken gemacht. Und die Antwort war ganz leicht: die Sammlung, die wissenschaftliche Forschung und die Marcksist*innen – das Museumsteam, unsere Besucher*innen, die Mitglieder des Freundeskreises und die Künstler*innen.

»Unser Kapital« ist nicht nur das Fundament der täglichen Arbeit im Gerhard-Marcks-Haus, sondern es war auch der Ausgangspunkt für ein zweiteilige Ausstellungsprojekt (3. September 2023 bis 25. Februar 2024).

Teil 1 der Ausstellung | Das Kapital. Alles Marcksist*innen!

Von A wie Ausprobieren bis Z wie Zukunft.

Die drei Leitsätzen unseres Museumsteams waren die Basis der Ausstellung „Das Kapital“ und ganz besonders des ersten Teils »Alles Marcksist*innen!«: Wir begeistern Besucherinnen und Besucher für Bildhauerei. Wir reden und schreiben verständlich und fundiert über Kunst. Wir schließen niemanden aus.

Dazu gehört, dass wir Kunst zeigen, von der wir finden, dass sie ausgestellt werden muss. Dabei haben wir eine ausgeprägte Sympathie für figürliche Bildhauerei, aber es ist egal, ob es sich um eine umfangreiche Retrospektive, eine einzelne Werkgruppe oder ein solitäres Kunstwerk handelt. Internationale Bekanntheit spielt dabei ebenso wenig eine Rolle wie ein hoher Marktwert oder Trends – ganz im Sinne unseres »Hausmeisters« Gerhard Marcks.

F wie Fantasie, V wie Vertrauen Eveline van Duyl: Installation »Der Wald«, 2021–2023

F wie Fantasie, V wie Vertrauen
Eveline van Duyl: Installation »Der Wald«, 2021–2023

Wir vertrauen aber auch unseren Besucher*innen, sich mit Neugier und Fantasie auf die unterschiedlichsten künstlerischen Positionen einzulassen. In der konstruktiven Auseinandersetzung mit den Kunstwerken sind alle Meinungen willkommen. Das unvoreingenommene Betrachten von Kunst ist wichtiger als ein (vielleicht) mitgebrachtes Vorwissen. Alles, was man braucht, um die Bildhauerei zu verstehen, findet sich in unseren Ausstellungen. Manchmal auch mit etwas mehr Text.

Museen zeigen Gegenstände, die »dort« und »irgendwann« gemacht wurden, im »Hier« und »Heute«. Jemand machte das Werk irgendwann aus einem Grund und wir sehen ihn heute aus unserer Perspektive. Es gibt also immer einen Abstand, und das Museum ist der Ort, wo darüber nachgedacht und geredet wird. Spannend wird es, wenn diese Beziehung komplizierter wird und sich Perspektiven mischen. Die eigenartigste Mischform ist die Tradition, die besagt, dass heute etwas von früher wichtig ist. Künstler*innen, die kreativ mit Tradition umgehen, interessieren uns besonders.

K wie Kultur, T wie Tradition Gertrud Schleising: Installation »Mach’s Buch zu! – Ich kann’s auch so«, 2023

K wie Kultur, T wie Tradition
Gertrud Schleising: Installation »Mach’s Buch zu! – Ich kann’s auch so«, 2023

Neugier und Wissenschaft

Tradition, Neugier und eigenständige künstlerische Positionen spiegeln sich auch in unserer Sammlung wider und das liegt nicht zuletzt an unserem »Hausmeister«: Gerhard Marcks war einer der berühmtesten Bildhauer in Deutschland im 20. Jahrhundert. Wir besitzen 426 Skulpturen von ihm und beschäftigen uns tagtäglich wissenschaftlich mit ihm, dabei entdecken wir immer neue Aspekte.
Mit der Ausstellung haben wir die verschiedensten Facetten in seinem Œuvre gezeigt. Für Marcks ging es darum, eine »Form« zu finden, eine plastische Zusammenfassung, von dem, was er gesehen hatte. Für ihn gab es dafür zwei wichtige Anregungen. Die erste war die Natur, wie sie sich zeigt. Die zweite war Griechenland. In den vorklassischen griechischen Künstlern sah er Geistesverwandte, die die Natur einfach darstellten, ohne sie schöner zu machen als sie ist. Dass Marcks’ Figuren zu dick, zu dünn, zu viel oder zu wenig Busen, zu große oder zu kleine Füße haben (oder der Esel der »Stadtmusikanten« am Bremer Rathaus zu klein ist), war und ist eine Konstante in der Kritik an seinem Werk. Genau das war ihm egal – uns auch. In der Ausstellung konnte man sehen, wie vielschichtig jede Arbeit von Gerhard Marcks eigentlich ist: Eine »kleine Ziege« erklärte den Besucher*innen, dass man anhand von ihr nahezu alle wichtigen Ideen von Marcks erklären konnte. Ein besonderer Clou war, ihre »Höhenverstellbarkeit«, sodass alle Besucher*innen (egal welcher Körpergröße) den eigenen Blickpunkt auf sie verändern konnten.

Unser Kooperationsnetzwerk

Ein wichtiger Teil unseres Museumsalltags ist die Vermittlung unserer Ausstellung und unserer Begeisterung für Bildhauerei. Wir freuen uns sehr darüber, wenn Kindergartengruppen, Schulklassen oder erwachsene Gruppen zu uns ins Museum kommen, aber wir gehen auch genauso gerne zu den Menschen in die Bremer Stadtteile. Dabei hilft uns ein engagiertes Netzwerk aus Kooperationspartnern. Wir arbeiten zum Beispiel seit 2009 mit Kultur Vor Ort e. V. in Gröpelingen zusammen. Dabei geht es immer wieder um die Frage, welche Rolle ein Museum in der vielsprachigen Gesellschaft der Zukunft spielen kann. Unsere Kunstwerke sind dabei die besten Sprechanlässe. Von Kindern und Jugendlichen haben wir dabei vielleicht mehr gelernt als sie von uns: vor allem, was es in Bremen an ökonomischen Hindernissen für viele Menschen gibt, um an Kultur teilzuhaben. Spätestens dann wird man zum*r Marcksist*in. Und genau das, wollten wir auch in unserer Ausstellung mit »Auf den Tisch!« sichtbar machen.

»Auf den Tisch!« war ein vom Senator für Kultur gefördertes Projekt (an dieser Stelle ein »Herzliches Danke!«), bei dem rund 600 Kinder und Jugendliche unser Museum und das benachbarte Wilhelm Wagenfeld Haus besuchten und zu den beiden »Hauskünstlern« Marcks und Wagenfeld arbeiteten. Es wurden nicht nur die Materialien und die pädagogische Betreuung finanziert, sondern auch die Fahrtkosten. »Auf den Tisch!« hat so viel Zuspruch erfahren, dass nicht alle Klassen, die an ihm teilnehmen wollten, auch mitmachen konnten. Und ohne eine weiterführende Förderung in Zukunft auch nicht werden mitmachen können.

C wie Capra aegagrus hircus, F wie Form, G wie Griechenland Gerhard Marcks: Kleine Ziege, 1968, Bronze

C wie Capra aegagrus hircus, F wie Form, G wie Griechenland
Gerhard Marcks: Kleine Ziege, 1968, Bronze

Die Philosophin Hannah Arendt (1906–1975) beschrieb den öffentlichen Raum als einen Tisch. Er befindet sich zwischen den Menschen. Er trennt sie und gleichzeitig verbindet er sie. Er macht Kommunikation zwischen Fremden möglich. Für Arendt symbolisiert der Tisch ein Gesellschaftsideal: Menschen, die prinzipiell alle gleich sind, haben die Möglichkeit, sich einfach dazuzusetzen und mitzumachen. Besser kann man unsere marcksistische Auffassung von Museum nicht zusammenfassen.

Z wie Zukunft, N wie Nachbar, T wie Tisch Auf den Tisch!: Die große Haserei, 2022/23

Z wie Zukunft, N wie Nachbar, T wie Tisch
Auf den Tisch!: Die große Haserei, 2022/23

Teil 2 der Ausstellung | Das Kapital. Blind Date

Der zweite Teil unserer »Kapital«-Ausstellung widmete sich ganz der museumseigenen Sammlung mit knapp 2.000 Plastiken und Skulpturen, 20.000 Blatt Zeichnungen und Grafik und vielem mehr von Gerhard Marcks und anderen Bildhauer*innen bzw. Künstler*innen. Es war uns wichtig, unseren Besucher*innen keine herkömmliche Sammlungspräsentation zu zeigen, sondern sie alleine mit den Kunstwerken zu konfrontieren.

Die Ursprungsidee des Systems »Museum« war nicht der Besitz (das war nur der Anlass), sondern Bildung: Menschen schauen Dinge an, die sie nicht selbst gemacht haben und denken über sie nach. Im Idealfall mit Respekt oder Staunen, aber möglicherweise auch mit Abscheu. Dass man auch etwas mal nicht gut findet, was jemand gedacht oder getan hat, gehört im Museum dazu. Und muss ausgehalten werden.

So hat das Museum zwei Funktionen: Wir bilden unseren Geschmack (was wir gut finden) und unsere Toleranz (wenn uns etwas nicht gefällt). Keine Frage: Museen sind politisch! Geschmack und Toleranz werden jedoch häufig davon beeinflusst, ob wir die*den Künstler*in kennen und sie*er uns sympathisch sind. Aus diesem Grund entschieden wir uns dafür, weder den Namen des*r Bildhauer*in in unserer Ausstellung zu nennen, noch etwas über den Entstehungskosmos des jeweiligen Werks zu verraten.

Aber wie spricht man über Kunst, wenn man keine Namen und auch kein Entstehungsdatum kennt? Es war ganz einfach: Genau hinsehen, nachdenken und/oder mit jemandem darüber reden. Besucher*innen trafen in der Ausstellung auf ihnen unbekannte Kunstwerke und auch Kunstwerke trafen aufeinander. Ohne Erklärung. Es galt herauszufinden, wo die Gemeinsamkeiten und wo Reibungspunkte liegen. Eben ein echtes »Blind Date« in und mit unserer Museumssammlung. Die Besucher*innen als Datepartner*in konnten ihre persönlichen »Aha-Momente« mit den anderen Besucher*innen teilen. Hinterließen ihnen an Pinnwänden Notizen und Ideen und kamen so losgelöst von einem gemeinsamen Besuch miteinander ins Gespräch.

Bremen Dezember 2023 Das Kapital Blind Date Fotos: Gerhard-Marcks-Haus Bremen/ Sandra Beckefeldt